Kinderängste begleiten

16 «Tschüüss …» Die junge Mutter winkt, bis der stolze Erstklässler die Strasse überquert, sich umdreht, zurückwinkt und dann losrennt. Die Grossmutter hat die Szene beobachtet, Erinnerungen tauchen auf, sie fühlt sich 30 Jahre zurückversetzt. Die Haustüre fällt mit lautem Getöse ins Schloss, im Dachstock poltert es, als wäre eine Elefantenherde unterwegs – die zwei Kleinen sind am Spielen. Ihre grosse Schwester hat sich soeben auf den Weg in den Kindergarten gemacht, gut geschützt unter ihrem neuen Regenschirm. Seit einer Woche ist sie ohne Begleitung unterwegs. Die Mama ist richtig stolz auf ihre Älteste! Sie drückt auf den EspressoKnopf ihrer Kaffeemaschine, einen Kaffee in aller Ruhe hat sie sich nach dem morgendlichen Familienstress verdient. In diesem Moment wird die Haustüre aufgerissen, die Türe knallt zum hundertsten Mal an die Garderobenwand, und Anna rennt mit patschnassen Gummistiefeln in die Küche. Unter der Kapuze ihrer Regenjacke blitzen zwei braune Augen: «Mama, du hast etwas vergessen!» Sie guckt ihre Mama erwartungsvoll und herausfordernd an. Diese ist irritiert. Das Znüni hat sie eingepackt, ebenso Joghurtbecher, Korkzapfen und drei Zeitungen, genau wie es auf dem Zettel stand, den Anna vom Kindergarten heimgebracht hatte. «Vergessen? Was soll ich denn vergessen haben? Ich hab doch den Zettel ganz genau gelesen!» Anna schüttelt den Kopf. «Du hast vergessen, was zu sagen!», meint sie leicht vorwurfsvoll. Die Mama wird ungeduldig: «Anna, jetzt ist nicht Zeit für Rätselspiele, du kommst zu spät in den Kindergarten!» Anna versteht nicht, warum ihre Mama heute sooo begriffsstutzig ist. Sie tippt mit ausgestrecktem Zeigefinger vehement auf Mamas Brust: «Du – hast – mir– einen – Kuss – gegeben – und – tschüss – gesagt – aber – du – hast – ‹Bhüeti Gott› – vergessen!» Die Mama ist perplex, sie ist nicht die Frau der frommen Sprüche, das geht ihr gegen den Strich – aber wie ist das nun mit diesem «Bhüeti Gott»? Sie drückt ihre Tochter verwirrt an sich, sucht vergeblich die «richtigen» Worte und schiebt den gelben Zwerg eilig zur Haustüre hinaus: «Also, wenn du meinst, dann sag ich nochmals – also: Mach’s gut, pass auf, nicht losrennen bei der Ampel, tschüüss, bis bald – und – Bhüeti Gott!» Anna dreht sich auf dem Gartenweg um, winkt unter ihrem hübschen Schirm, strahlt und schlüpft offensichtlich zu- frieden zum Gartentor hinaus. Die Grossmutter lächelt, ihre Augen blitzen. Sie wirft einen Blick zurück zur Strasse, ihr Enkel ist längst verschwunden. Sie schickt ihm ein leises «Bhüeti Gott» hinterher. Renate Begré-Spycher Bhüeti Gott

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